Liebe Thinkfans,
Ihr/Sie alle, einschließlich der wiederum Neuhinzugekommenen, die ich herzlich begrüße, wünsche ich einen angenehmen, von schönen Sommererinnerungen erfüllten Sommerausklang und eine zuversichtliche Vorschau auf den in wenigen Tagen an die Türe pochenden Herbst; wobei ich zu meiner Verblüffung gerade entdeckt habe, dass – sofern man sich von der astronomischen Einteilung der Jahrezeiten leiten lässt – der Herbst erst am 21. September seinen Platz in dem sich unaufhaltsam drehenden Karussell der Jahreszeiten wird einnehmen dürfen, sodass sich das astronomisch angehauchte Gemüt noch einigen Wochen der Sommerfreude hingeben kann.
Schon lange war es mein Wunsch gewesen, zur digitalen Feder zu greifen, um eine neue Thinkletter zu verfassen und sie dann in Form eines Elektronenwölkchens durch den Cyberspace ziehen zu lassen.
Der seit dem Erscheinen der letzten Thinkletter am 01. Januar dieses Jahres vergangene Zeitraum ist leider viel zu groß, als dass er mit den allseits gebräuchlichen Formeln an Ausreden entschuldigt werden könnte. Ganze Berge an Entschuldigungen wären vonnöten, sodass ich ich es gar nicht erst versuchen möchte, außer zu sagen: I am very sorry.
Allerdings hat mir die Suche nach Erklärungen doch keine Ruhe gelassen, sodass mir, da wir nun einmal in einem neurobiologischen Zeitalter leben, der Gedanke kam, ob die Erklärung für die ungemein lange Thinkletter-Denkpause vielleicht auf neuronaler Ebene zu suchen sei.
Vielleicht haben die Neuronen, – weil ich sie bislang noch nie gefragt hatte, ob sie willens wären, eine Thinkletter zu verfassen, sondern ich es ihnen einfach angeordnet hatte, – sich zu einem längeren Streik entschlossen, um mir eine Lektion zu erteilen. Vielleicht hatten sie auch zu großen Gefallen an der Lektüre von Paul Lafargue’s, 1883 verfasstem Manifest ‘Le droit a la paresse’, zu deutsch: ‘Das Recht auf Faulheit’,
https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Recht_auf_Faulheit
gefunden, als dass sie die Neigung verspürt hätten, sich vor den Thinkletter-Denkarbeit-Karren spannen zu lassen.
Aber vielleicht, – und dies wäre eine durchaus plausible und mit neuronalen Prinzipien vereinbare Erklärung – sehen sich die Neuronen nicht in der Lage, gleichzeitig auf verschiedenen Denkparketts zu tanzen, d.h. gleichzeit an die Komposition einer neuen Thinkletter zu denken sowie an diverse andere Projekte – ähnlich, wie von Künstlern nicht erwartet werden kann, gleichzeitig Gedichte in durchkonstruierten Hexametern und flotte, dahinfließende Romane zu schreiben.
Aber vielleicht ist es auch so, dass selbst in den winzigen Neuronen schon der Hauch empathischer Regungen vorhanden ist, was die Neuronen zu der Auffassung gebracht haben könnte, keine Thinkletter komponieren zu wollen, um mich zu schonen. Denn es ist nun einmal so, dass, selbst wenn die Neuronen die gedanklichen Linien für eine Thinkletter entwerfen, für mich noch ein Rest Arbeit bleibt, nämlich die Thinkletter zu tippen und dafür zu sorgen, dass der Text seinen Weg durch das Labyrinth der Thinkletter-Produktion bis zum Versand findet.
Immens viel ist seit Jahresbeginn geschehen, ohne dass ich im Einzelnen darauf eingehen könnte: Die schwelende am Rand eines Krieges dahintaumelnde Krise der Ukraine, die Zerstörung und Zerstückelung Syriens, die einen Flüchtlingsstrom sondergleichen verursacht hat – weltweit gibt es derzeit 60 Millionen Flüchtlinge –, das blaue, romantische Mittelmeer, das sich in ein Massengrab verwandelt – allesamt Geschehnisse, die das Schicksal der Betroffenen, Männer, Frauen, Kinder und alte Menschen, sofern sie diese schrecklichen Ereignisse überleben, in einschneidender Form überschatten werden; und zwar nicht nur hinsichtlich ihres eigenen, noch vor ihnen liegenden Lebens, sondern auch weiterwirkend und übergreifend auf das Leben ihrer Nachkommen, sehr ähnlich wie es in Deutschland und in vielen von der unsäglichen Gewalt des Zweiten Weltkrieg überzogenen Ländern der Fall gewesen ist und sich im Schicksal der Menschen widerspiegelte. So teilen viele der heutigen Flüchtlinge die Schicksale derer, die damals wie ein “Maikäfer flieg, …” durch eine Welt an Zerstörung, Leid und Tragik irrten.
Und vielleicht wird die Erinnerung daran, dass ein vor 70 Jahren circa neun Millionen Menschen umfassender Flüchtlingsstrom in Deutschland nicht zum Untergang führte, sondern nicht unerheblich dazu beitrug, dass Deutschland nach 1945 eine Entwicklung sondergleichen durchlaufen konnte, ein Leitbild und humaner Kompass sein, dafür zu sorgen, Menschen, die verzweifelt und mittellos in Deutschland ankommen, eine Chance für ein lebenswertes Leben zu gewähren. “Die Größe eines Landes bemisst sich nicht daran, wie es mit den Mächtigen umgeht. Die Größe eines Landes bemisst sich daran, wie es mit den Machtlosen umgeht”, sagt der Journalist Jorge Ramos, siehe:
Wenn ich bei dieser Thematik noch verweilen darf, so möchte ich auf folgende Bücher hinweisen, und zwar einmal das Buch ‘Unternehmen Barbarossa: Der deutsche Krieg im Osten 1941- 1945’ von Christian Hartmann, vom Institut für Zeitgeschichte in München, dem auf nur 120 Seiten eine souveräne Zusammenfassung dieses unerhörten Kriegsgrauens gelingt:
Sue Saffle, Senior Instructor in Virginia Techs Department of English in den USA, hat sich des bislang nur wenig bekannten Schicksals der 80.000 finnischen Kinder angenommen, die während des Zweiten Weltkriegs von Finnland nach Schweden evakuiert wurden. Es ist ein sehr bewegendes Buch, in dem auch Überlebende zu Wort kommen und das vor Augen führt, wie tief und nachhaltig der Krieg in das Leben dieser Kinder eingriff – selbst, wenn sie von unmittelbaren Kriegshandlungen verschont blieben.
Hier ist der Link zu Sue Saffle’s Buch: ‘To the Bomb and Back. Finnish War Children tell their World War II Stories’.:
Wenn ich noch auf ein weiteres Buch hinweisen darf, das ich sehr lesenswert finde, so ist es das Buch des Historikers Alistair Horne über den blutigen Algerienkrieg, ‘A Savage War Of Peace: Algeria 1954-1962’:
– ein Krieg, dem über eine Million Algerier zum Opfer fielen, und ein Krieg, der nicht nur vor Augen führt, mit welcher Selbstverständlichkeit sich diverse europäische Mächte anderer, europaferner Länder gewaltsam bemächtigten, sondern mit welcher Gewalt sie sich dann oftmals sträubten, die unrechtmäßig in Besitz genommenen Länder wieder freiwillig und mit Anstand zu räumen.
Viel Zeit muss oft ins Land ziehen, bevor kollektive Katastrophen Formen des Ausdrucks in der Literatur oder in Filmen finden oder einen Ort des Gedenkens und der Reflektion – so auch in Beirut, wie es Roula Khalaf in dem Artikel ‘A yellow façade, a Beirut house and the memories that lie beneath’ beschreibt:
http://www.ft.com/cms/s/0/52360e1a-4659-11e5-af2f-4d6e0e5eda22.html?siteedition=uk#axzz3k8LVRklT
Wer, um zurückzublenden, sich dafür interessiert, welche Auswirkungen der Erste Weltkrieg auf englische Soldaten und das gesamte Gefüge der englischen Nation hatte, dem empfehle ich Suzie Grogan’s hervorragendes Werk ‘Shell Shocked Britain: The First World War’s Legacy for Britain’s Mental Health’:
Menschen können ermordet werden. Millionen von Menschen haben im letzten Jahrhundert auf diese Art und Weise ihr Leben verloren. Aber die Erinnerung und das Gedenken lassen sich nicht töten. Seit 25 Jahren hat sich die russische Menschenrechtsorganisation ‘Memorial’ der Opfer des stalinistischen Terrors angenommen und ein Archiv von nahezu drei Millionen Opfern zusammengestellt. Nun hat Sergei Parkhomenko die Idee der Stolpersteine um der Staatsbürger jüdischen Glaubens, die im Holocaust ermordert wurden zu gedenken, übernommen und eine Initiative in die Wege geleitet, im Rahmen derer Gedenkplaketten für Gulag-opfer angebracht werden; die ersten in Moskau im Dezember 2014.
Hier ist der Link:
http://www.ft.com/cms/s/0/95afc6f6-4c33-11e5-9b5d-89a026fda5c9.html?siteedition=uk
Welche faszinierend neue Wege die Trauma-Grundlagenforschung geht, zeigt ein höchst lesenswerter Artikel von Prof. Dr. Dr. J. C. Rüegg, dem Autor des wichtigen grundlegenden Werkes ‘Gehirn, Psyche und Körper. Neurobiologie von Psychosomatik und Psychotherapie’.
In seinem Artikel mit dem Titel ‘Traumagedächtnis und Optogenetik – Licht ins Dunkel des Unbewussten’, der in der Zeitschrift Trauma & Gewalt, Heft 1/ 2015 erschien und dessen Zusammenfassung ich zitiere, schreibt Prof. Rüegg:
‘Bei traumatischen Erfahrungen wird die Angst (als Emotion) im Mandelkern (Amygdala) gespeichert, der Kontext jedoch, in dem das negative Ereignis stattfindet, im Hippocampus. Aktuelle optogenetische Studien an gentechnisch manipulierten, furchtkonditionierten Mäusen zeigen, dass die traumatischen Gedächtnisspuren im Gehirn (Engramme) durch Licht reaktiviert werden können und dabei – beim Erinnern – wieder labil werden. Kurz, die Engramme “dekonsolidieren”. Dank dieser temporären neuronalen Plastizität lassen sich während der ‘Rekonsolidierung” die Erinnerungen an (zum Beispiel) den Kontext eines Traumas durch neues Lernen nachweisbar verändern bzw. aktualisieren, ja sogar verfälschen (“false memories”, s. Ramirez et al., 2013), zumindest bei Mäusen. Laut Schiller (2010) kann ein reaktiviertes Furchtgedächtnis aber auch bei traumatisierten Patienten durch “Überschreiben der Gedächtnisspur” mit neuen (positiven) Informationen verändert, aktualisiert und sogar “gelöscht” werden.’
Auf das Werk von Eric Kandel ‘Auf der Suche nach dem Gedächtnis’ habe ich schon mehrmals hingewiesen:
http://www.amazon.de/gp/product/3570550397?keywords=eric%20kandel&qid=1440788310&ref_=sr_1_1&sr=8-1
Und vielleicht wird es dann eines fernen Tages sogar möglich sein, mithilfe des neuen ‘Supermikroskops’
mit dem Auge zu verfolgen, wie in den Neuronen des Gedächtnisses Gedächtnisspuren eingraviert und auch wieder gelöscht werden.
Prof. Dr. Dr. h.c. R. Rüdel, der sich in besonderer Weise für die Behindertenfürsorge engagiert, hat mich dankenswerterweise auf die Zeitschrift RehaTreff aufmerksam gemacht, ein hervorragend gestaltetes Magazin, das für alle informativ ist, die sich für das so wichtige Thema der Behinderungen interessieren und den Hilfestellungen, die moderne Technologien zur Verbesserung der Lebensqualität beitragen können.
In diesem Zusammenhang sei mir auch der Hinweis erlaubt, in welchem Maß die ‘Technologie’ von Schutzimpfungen, wie die gegen Poliomyelitis, die heute eine Selbstverständlichkeit ist, zur Verhinderung verheerender Behinderungen beigetragen hat. Die Erinnerung, während der Volksschulzeit bei einem Uni-Klinikbesuch vor einer Eisernen Lunge zu stehen, in der der gelähmte Körper einer Schulkameradin lag, ist mir unvergessen.
Das Magazin RehaTreff wird von Herrn W. Schneider im AWS Verlag herausgegeben.
Hier ist der Link:
http://www.rehatreff.de/rehatreff-aktuell/
In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf den von der WHO herausgegebenen Mental Health Atlas 2014 hinweisen, denn
‘WHO’s Mental Health Atlas series has established itself as the most comprehensive and widely used source of information on the global mental health situation.’
http://www.who.int/mental_health/evidence/atlas/mental_health_atlas_2014/en/
Mit großem Interesse lese ich die Rezension des in Kürze erscheinenden Buches von David Wootton ‘The Invention of Science: A New History of the Scientific Revolution’:
da in diesem Buch, wie die Rezensentin, Andrea Wulf, schreibt, unter anderem die These dargestellt wird: “A revolution in ideas requires a revolution in language”. Wie abstrakt ein solcher Satz auch auf den ersten Blick klingen mag, so gewinnt er an Leben, folgt man Andrea Wulf’s Darstellung:
“Take the word ‘discovery’. Wootton argues that when Christopher Columbus discovered America in 1492, he didn’t have a word to describe, what he had done. The nearest Latin verbs were invenio (find out), which Columbus used, reperio (obtain), which was employed by Johannes Stradanus in the title of his book of engravings depicting the new discoveries, and exploro (explore), which Galileo used to report his sightings of Jupiter’s moons. It was the Portuguese, the first global imperial power, who introduced the term ‘discovery’ – and spread it across Europe when a letter supposedly written by the explorer Amerigo Vespucci was published in 1504. It wasn’t until 1563 that the word [discovery] made its appearance in English”.
Hier ist der Link zu Andrea Wulf’s Rezension:
http://www.ft.com/cms/s/0/1ad4e420-4bd4-11e5-b558-8a9722977189.html
Andrea Wulf ist die Autorin eines ebenfalls in Kürze erscheinenden, sehr gelobten Buches über den großen Naturforscher Alexander von Humboldt, das sicherlich in absehbarer Zeit auch in einer deutschen Ausgabe erscheinen wird:
Und um das Wandeln im Denkgarten in unserem Zeitalter noch ein Weilchen fortzusetzen:
Im Mai 2015 erschien ein Artikel über die elfjährige (!) Ria Cheruvu, die an der Universität Harvard das Studium aufnimmt.
http://www.spiegel.de/schulspiegel/elfjaehriges-maedchen-will-in-harvard-studieren-a-1036308.html
Ria Cheruvu wird Neural Cryptography studieren und sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigen, geleitet von dem Ziel: “Ich will verstehen, wie Gedanken entstehen” – ein faszinierendes, zukunftsträchtiges Ansinnen und natürlich auch eine Ermutigung, den Think-Gedankenweg Schritt für Schritt weiter zu begehen und nach Gedankenfrüchten, die längs des Weges an den Bäumen der Phantasie und der Träume hängen, Ausschau zu halten.
So freut es mich, die Mitteilung machen zu dürfen, dass die Thinkletter nunmehr eine kleine Unterstützung erhalten hat, und zwar dadurch, dass es durch die Bemühungen von Uwe Kohlhammer und Dunja Freimuth gelungen ist, die www.ThinkClinic.com Website, die in einen so langanhaltenden Dornröschenschlaf versunken war, dass ich manchmal mich des Gefühls nicht erwehren konnte, es würde nie mehr gelingen, si wachzurütteln – dass aber nun dieses doch gelungen ist und die www.ThinkClinic.com Website nunmehr ‘live’ im Internet zu sehen ist und nicht nur lebhaft angeblickt, sondern auch angeclickt werden darf.
Ich danke all denen, die mir im Verlauf der letzten Monate ihre tatkräftige Mitwirkung, Unterstützung, Ermutigung, Rückmeldung und guten Wünsche für die Palette der Projekte haben zukommen lassen, die auch auf www.ThinkClinic.com zu sehen sind und ich möchte auch nicht vergessen, den Neuronen zu danken, dass sie sich doch wieder zur Mitarbeit für eine Thinkletter bereit erklärt haben. Dies ermutigt die weitere Entwicklung und Realisierung von Projekten, die noch in der Schublade darauf warten, das Tageslicht zu erblicken.
Es harren große Landstriche der Bearbeitung: Ich denke an die Themen Trauma, die transgenerationalle Transmission von Traumen, ‘Licht in den Ozean des Unbewussten …’ zu bringen, um Zugänge zu im Unbewussten verborgenen vielfachen Leiden zu bahnen, an die Struktur und Dynamik von Denkprozessen, an das so wertvolle Hilfmittel der Intuition, an das Erkennen und Fördern von Potenzialen, an …, an … und ich freue mich über jede Mitwirkung im Sinn der gedankenreichen Anregung und Verbreitung dieser Ideen.
So freue ich mich auf Eure/Ihre Rückmeldungen.
Herzliche Grüße
Peter (Heinl)